Swissalpine Marathon K42

26. Juli 2008 - Der Berg ruft! - Gut überlegt und mit der nötigen Prise Respekt ging ich das Laufprojekt in den Schweizer Alpen von Swissalpine (www.swissalpine.ch) an. So wurde der K42 zum nächsten Etappenziel meiner Marathonkarriere. Total sind 3’600 Höhenmeter zu meistern, davon 1’890 Meter hinauf und 1’710 Meter hinunter auf einer Länge von insgesamt 42,192 km.

Nach dem Hamburg-Marathon im April und dem intensiven Training legte ich vorerst eine kleine Trainingspause ein, denn ich war wie ausgelaugt. Mir war bewusst, dass ich für die Herausforderung des Swissalpine-Marathons, was das Training angeht, nicht aus dem vollen Schöpfen konnte. Zudem wollte ich meine Lauftechnik verbessern resp. erweitern. Als klassischer Fersenläufer brachte ich mir in den Monaten Mai und Juni das Vorderfusslaufen bei. Es brauchte Zeit und Geduld, vor allem gab es einige Male unerwarteten Muskelkater in den Waden.

Wegen des Umzugs unserer Büroräumlichkeiten mussten meine Frau Piera und ich die Sommerferien einen Monat zurück in den Wettkampfmonat Juli verschieben. Die wichtigen und langen Trainingseinheiten erfolgten somit an der italienischen Riviera und in Südfrankreich bei heissen Temperaturen, Sonnenschein und frischer Mittelmeerluft. Zu meinem Erstaunen merkte ich, dass meine Kondition durch das konsequente und viele Vorderfusstaining im Mai und Juni im gewohnten Schritt mehr ab- als zugenommen hatte. Diese Tatsache hatte ein konsequentes Training in „letzter Minute“ zur Folge. In den Sommerferien lief ich jede Woche zwischen 70 und 100 km. Ich war selber erstaunt, wie schnell eine Leistungssteigerung möglich war, was mich ein bisschen beruhigte.

Die letzte Woche vor dem Marathon, wie gewohnt und bewährt: Kein Lauf mehr, gesunde Ernährung, genügend Schlaf und ja keine Erkältung einholen. Die Nervosität stieg und ich fühlte mich grossartig.

Samstagmorgen, 26. Juli 2008

Meine Frau Piera und ich verlassen um 06.15 Uhr die Wohnung in Luzern und holen mit unserem Fahrzeug die Freunde und „Fans“ Nicole und Oliver ab. In Chur stossen wir zu meinem treuen Marathon-Freund Gerry (www.physio-luzern.ch), Sonja, Gerrys Ehefrau, und deren Mutter Josi. Um 08.58 Uhr nehmen wir gemeinsam den Zug ab Chur Richtung Startgelände nach Bergün. Der Zug ist ein bisschen eng, aber die Aussicht und die Stimmung kompensieren dies gut. Anhand der vielen Läufer im Zug war uns klar, dass wir richtig sitzen. Wir haben einander viel zu erzählen, und die 80 Minuten verfliegen schnell.

Die Nervosität steigt, und pünktlich fährt der Zug im kleinen und idyllischen Bergdorf Bergün auf 1'200 m.ü.M. ein. Noch gut 90 Minuten bis zum Start. Unkompliziert und sehr gut organisiert können wir die Startnummern in Empfang nehmen. Die ersten Läufer des K78 passieren jetzt Bergün und haben schon 42 km hinter sich. Wir jubeln ihnen zu. Mein Adrenalinpegel steigt. Die Stimmung ist einfach gewaltig.

Der Wetterbericht prognostizierte Regen, und es ist tatsächlich bewölkt. Nach dem Skandal auf der Bergspitze ist für mich klar: der Regenschutz kommt mit. Auf dem Startgelände der gut 1'000 Läuferinnen und Läufer bemerke ich aber schnell, dass ich, mit Regenschutz rennen zu wollen, fast eine Ausnahme darstelle. Wie damals beim Zürich-Marathon bin ich hin und her gerissen. Meine Vernunft sagt „mitnehmen“, mein Gefühl sagt „abgeben“. In diesem Moment drückt die Sonne leicht durch, und ich ziehe ihn definitiv aus.

Punkt 11.30 Uhr ertönt der Startschuss. Allen Läufern ist klar, dass die Energiereserven heute länger als bei einem gewöhnlichen Marathon reichen müssen. Es folgt eine 2 km-Runde um Bergün herum, und wir passieren anschliessend mitten durch das schöne Bergdorf. Gerry und ich starteten relativ weit hinten und passten uns der Masse an. So nehmen wir den Start eher gemächlich und geniessen. Unsere treuen Begleiter und „Fans“ jubeln uns in Bergün nochmals zu. Jetzt lockert sich das „Feld“, die Strecke wird breiter und ich kann mein Tempo rennen, ein bisschen „Gas“ geben und überholen.

Obwohl es jetzt schon konstant bergauf geht, habe ich ein gutes Tempo drauf und spüre, wie mein Körper sich auf Dauerlauf einstellt. Die Kulisse ist traumhaft, und ich merke am Ohrendruck, dass wir enorm schnell an Höhe gewinnen. Aber, je steiler es wird, umso mehr lässt das Tempo nach.

Für den ersten Gipfel, die Kreschhütte, sind über 1’ 200 Höhenmeter zu schaffen, und das auf einer Distanz von 15 km. Die Zeit verstreicht, aber die Kilometer auf meiner Polar-Uhr zählen sich nur sehr zaghaft nach oben. Die Stimmung bei den Läufern ist bombastisch. Bei steilen Passagen, wo jetzt sozusagen nur noch Laufschritt möglich ist, habe ich die Möglichkeit mein Handy hervorzunehmen und ein paar Schnappschüsse zu machen (Bilder der Strecke). Diese Eindrücke musste ich einfach als Souvenir der wunderbaren Landschaft festhalten. Die Strecke ist perfekt gekennzeichnet. Das Markieren muss ein riesiger Aufwand gewesen sein.

Bei Kilometer 10 erreiche ich die auf 1’822 m.ü.M. gelegene Ansiedlung Chants. Sozusagen der letzte Aussenposten der Zivilisation vor dem Hochgebirge. Dieser und auch alle weiteren Verpflegungsposten haben immer eine schöne Auswahl an Getränken und Energieverpflegung. Freundlich und hilfsbereit sind die Helfer und Schaulustigen. Man wird angefeuert.

Von hier an mutiert der breite Schotterweg zum steilen Gebirgspfad. Wir steigen immer höher und tiefer ins Gebirge, und bald erreichen wir die Baumgrenze. Mein Handy hat schon länger keinen Empfang mehr. Die Zivilisation haben wir nun definitiv hinter uns gelassen. Abgeschnitten. Nur noch du, der Berg und deine Mitläufer. Die Luft wird zunehmend dünner, Schneefelder kommen zum Vorschein und kühle Luft bläst mir um die Ohren.

Endlich rückt in der Ferne in exponierter Lage die Keschhütte in den Blickfang, eingerahmt vom Piz Kesch. Dies ist der höchste Punkt der Strecke auf 2’632 m.ü.M. (Kilometer 16). Keuchend erreiche ich dieses Zwischenziel in 1:58 h. Hier wird die einzige Zwischenzeit gemessen. Zwischenrang 182 von 675 Männern. Der erste Gipfel ist erreicht. Durch das nasse und verschwitzte Bachmann-Rennshirt ist die Temperatur gerade noch auszuhalten. Ich bin jetzt doch sehr froh, dass der Regen ausgeblieben ist, dann ich hätte den Regenschutz sonst wirklich gebraucht. Es zieht hier oben, und die zwei Becher warme Bouillon sind eine Wohltat. Es herrscht eine gewisse Hektik hier auf dem Gipfel, denn der Helikopter ist gerade im Landeanflug, 10 Meter von mir entfernt. Grund ist ein gestürzter Läufer, der unter uns zwischen Steinen liegt.

Nun geht es über Stock und Stein talwärts. Auf den folgenden 4 km sind 600 Höhenmeter zu bewältigen. Ich „falle“ förmlich bergab. Mit Geduld, dem richtigen Augengblick, dem nötigen Geschick und auch ein bisschen Risiko kann ich gut 30 Läufer überholen. Ich springe wie ein Steinbock, immer nahe dem Stolpern. Jeder Schritt muss sitzen. Vernünftig und Gelenk schonend ist dies nicht gerade, aber es tut gut.

Es kommt mir vor, als fliege ich das Tal hinunter, frei wie ein Vogel. Vor dem Marathon hatte ich mal einen Traum, wie ich als Vogel in ein Tal herunter gleite. Meine Erinnerungen an den Traum sind mit diesem Tal identisch. Ich denke, dass mich die Streckenbilder, welche ich vorher auf dem Internet bewundert habe, derart fasziniert haben, dass ich davon geträumt habe.

Ein paar kleine Bächlein laufen über „die Rennstrecke“, und die Steine sind rutschig und lose. Konzentration ist jetzt wichtig, denn nasse Socken sind nicht erwünscht für die weiteren 25 km. Auch knickt man schnell ein und ein Rennabbruch wäre vom Transport her im „Nowhere“ schon ein bisschen komplizierter als in einer Grossstadt, wo man den Bus oder das Taxi nehmen kann.

Jetzt nähere ich mich dem Tal, der Alp Funtauna, dem ersehnten nächsten Verpflegungsposten. Der 21. Kilometer resp. die Hälfte der Strecke, ist jetzt erreicht. Weiter gehts, und zwar wieder im Zick-Zack steil bergauf. Auf den kommenden 2,5 km sind wieder über 800 Höhenmeter zu meistern. Ich spüre, dass es nicht mehr gleich einfach und locker geht. Jetzt spüre ich das erste leichte Zucken im Oberschenkel. Die erste Ermüdungserscheinung meldet sich. Normal habe ich dies 7 bis 8 km später. Mir ist bewusst, dass der Leidensweg mich heute speziell herausfordert, denn ich war noch lange nicht am Ziel.

Kurz vor dem 2. Gipfel auf dem Scalettapass durchqueren wir zwei weitere Schneefelder. Der Läufer vor mir kann sich gerade noch halten, denn fast wäre er 4 bis 5 m das Eis runtergerutscht. Die Luft wird wieder dünner, und ich kann weder überholen, noch werde ich überholt. Vor allem an den steilen Pfaden braucht man zu viel Kraft. Alle passen sich mehr oder weniger dem Tempo des Vorderläufers an. Ich bemerke seit geraumer Zeit, dass, selbst wenn man überholt oder überholt wird, man immer wieder die gleichen Mitstreiter zu Gesicht bekommt.

Geschafft! Die Passhöhe ist erreicht und die Stimmung ist genial. Erleichterung und Freude herrscht. Am liebsten würde ich hier ein bisschen verweilen. Ein wahrlich magischer Platz hier oben, ein Kraftort. Es liegen noch 20 km vor mir. Ich „investierte“ nochmals 30 Sekunden, um die Atmosphäre mit einem Foto festzuhalten (siehe unten).

Ab jetzt geht es wieder runter und zwar 1’000 Höhenmeter bis nach Davos auf 1'538 m.ü.M. Die Kilometer zählen sich jetzt einiges schneller. Die Naturstrasse staubt und wirbelt feine Steinchen hoch. Einige davon bleiben mir zwischen Socken und Schuhrand liegen. Ich spüre, dass sich jene runterarbeiten, und es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis sich Blasen bilden. Anhalten will ich aber nicht. Die „Bobochen“ werden jetzt eh überall spürbar. Ich komme mir vor wie in einem Cockpit, wo das eine und andere Lämpchen aufzuleuchten beginnt und ein Problem meldet. Die traumhafte Gegend vermag jedoch gut abzulenken.

Jetzt sehne ich mich förmlich nach der Baumgrenze. Kilometer 28, Dürrboden. Hier können wir uns wieder auftanken, und langsam kommen wir zurück in die Zivilisation. Hinter diesem Tal muss Davos liegen. Es muss Davos sein! Noch gut 14 km liegen vor mir. ‚Es ist zu machen’, schiesst es durch den Kopf. Der berühmte „Hammer“ klopft jedoch auch immer mehr an. Ich bin gut im Rennen, aber es wird ein Ringen mit dem inneren „Schweinehund“ (wie man es in der Szene zu pflegen nennt). Und diesmal ein bisschen länger und mehr als an einem „gewöhnlichen“ Marathon.

Das Handy hat jetzt wieder Netz und Oliver ruft mich vom Zielgelände an. Da ich mich seit dem Start von Musik habe berauschen lassen (übrigens spezieller Marathon-Motivationssound), kann ich nur den Knopf drücken und perfekt rennen und sprechen. Noch ca. eine Stunde, dann sollte ich am Ziel sein, melde ich. Ich will eigentlich nicht an diese 60 Minuten denken und bin froh, dass ich mit Oliver gut 5 Minuten plaudern kann. Es lenkt mich ab. - Schon wieder ist es ein Kilometer weniger. Das Gefühl naht immer mehr, es schaffen zu können und auch noch in einer respektablen Zeit. Aber Ankommen war mein Ziel. Über die Endzeit machte ich mir keine Gedanken im Vorfeld.

Bei Kilometer 33 muss ich das erste Mal eine Geh-Minute einlegen, obwohl es immer noch leicht abwärts geht. Doch gleich gehts im Jogging-Tempo mit ca. 11 km/h weiter. Ich versuche mitzuhalten mit den anderen Läufern. Die Konzentration wird schwächer und dann passiert es. Ich passe einen Buchteil einer Sekunde nicht auf. Auf einem geraden Schotterweg erwischt es mich eiskalt. Ich stolpere, fliege durch die Luft und mache im wahrsten Sinne des Wortes eine bilderbuchmässige Bauchlandung. Meine Sonnenbrille besteht jetzt aus 10 Einzelteilen. Bauch, Hände und Beide sind aufgeschürft, und das Blut dringt heraus über die staubige Oberfläche der Haut. Der Schmerz ist überall. Ist etwas gebrochen? Gezerrt? Mein Instinkt ist, sofort aufstehen und weiter rennen. Nach ein paar Schritten ist mir klar, dass es weiter gehen kann, und es zum Glück nur Schürfungen sind.

Ich setze mir am Horizont oder am Weg immer wieder Ziele und belohne mich bei deren Ankunft mit 1 - 2 Minuten im Gehschritt. Und so geht es weiter bis zum 39. Kilometer. Von nun an will ich durchrennen und die letzen Reserven noch holen. Vor und hinter mir ist kein anderer Läufer. Es geht runter auf eine Asphaltstrasse. Endlich Davos! Jetzt geradeaus ins Ziel. Dachte ich! Da ist plötzlich diese weisse Absperrung vor mir, und ich muss die Zuschauer fragen, wo denn der Weg weitergeht. Sie zeigen mit dem Finger in den Wald rauf. Jetzt geht es doch tatsächlich nochmals hoch. Jetzt wird nochmals alles abverlangt.

Immer näher kommen die Mikrophontöne vom Stadion, wo der Zieleinlauf sein muss. Dies tönt nach wahrer Erlösung, und man wird magisch angezogen. Jetzt kann ich es sehen, das ersehnte Zielgelände. Es fährt einem Eiskalt den Rücken runter. Ich spüre die „Hühnerhaut“ am ganzen Körper. Die Zuschauer bejubeln einem als Held, und so kommt man sich vor.

Auf dem Zielgelände darf man über die Finnenbahn noch eine Runde ziehen. Ein unbeschreibliches Gefühl, ein absoluter Höhepunkt, mit dem letzten „Kick“ über die Ziellinie zu laufen und einfach anzuhalten. Wie schon beim letzten Berglauf vor einem Jahr zählen die Freudentränen zu den ganz glücklichen und unbeschreiblichen. Genau das macht es aus. Man muss einen Alpinmarathon erlebt haben. Ich denke nicht unbedingt, dass es die Sucht ist, sondern die Einzigartigkeit dieser Sekunde oder des Augenblickes. Das grosse Vertrauen ins Selbstbewusstsein. Mit dem Körper an die Grenze zu gehen und eins zu werden ist schwer in Worte zu fassen. Das harte Training kompensiert sich alleine mit dem Augenblick des Zieleinlaufes. Von den 675 Männern komme ich mit 4:51 h als 168. ins Ziel. Auch Gerry läuft gleich danach jubelnd und ausser sich über die Ziellinie.

An dieser Stelle möchte ich der Organisation des Swissalpine Marathons (www.swissalpine.ch) für die sehr gute Organisation gratulieren und danken. Die Sonne lacht und das Zielgelände animiert derart, dass Oliver, der noch nie einen Marathon gerannt ist, nächstes Jahr seinen 1. Marathon bestreiten will.

Beim Duschen bei ca. 5 °C kaltem Eiswasser müssen wir unsere Härte allerdings nochmals unter Beweis stellen. Danach geniessen wir alle eine Pizza in Davos, bevor es um 20.00 Uhr zurück nach Chur geht. Mit Olivier und Nicole fahren wir anschliessend nach Sagogn bei Laax, wo wir in einer schönen Ferienwohnung übernachten. Den Sonntag verbringen wir im Paradies der Bergen am Lac la Cauma (siehe Foto).


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